Matthias Oppermann erschafft Kunst, die man nicht nur sehen, sondern auch fühlen kann. Inspiriert von inneren Landschaften und körperlichen Erfahrungen, bewegt er sich in seinen Werken zwischen zarter Berührung und emotionaler Tiefe. Wie aus blind gezogenen Linien überraschende Dialoge entstehen und warum Landschaften für ihn lebendige Körper sind – eine Begegnung mit einem Künstler, der das Unsichtbare sichtbar macht.

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Wann wussten Sie, dass Sie Künstler werden wollen?

Als ich etwa zehn Jahre alt war, forderte uns ein Lehrer auf, morgens zu Beginn des Unterrichts ein Lieblingsbild mitzubringen. Wir sollten es fünf bis zehn Minuten lang still betrachten. Anfangs war mir dabei langweilig, aber dann veränderte sich etwas: Das Bild begann, sich wie eine Haut um mich zu legen, es hüllte mich ein. Ich war mit dem Bild allein und vergaß, was um mich herum geschah. Ich spürte, dass Bilder mehr sind als bloße Abbildungen - sie können Schutzräume sein, Höhlen, in denen man innerlich unterwegs ist. Diese Erfahrung hat mich tief geprägt. Besonders das Durchschreiten der Langeweile, dieses Aushalten, bis sich plötzlich etwas öffnet - das ist bis heute ein zentraler Moment in meinem künstlerischen Prozess. Ich weiß, dass ich oft erst durch solche Phasen hindurch muss, um etwas Neues zu entdecken. Mit sechzehn war ich dann in einer Ausstellung surrealistischer Kunst. Die Verbindung von Sexualität, Aggression und Ästhetik traf mich mitten in meiner eigenen inneren Aufgewühltheit. In diesem Moment wusste ich: Ich will Künstler werden. Ich begann zu zeichnen, kopierte Munch und Picasso. Besonders das figürliche Zeichnen faszinierte mich - der Körper als Projektionsfläche für Begehren, Verletzlichkeit und Gewalt. Diese Spannungen bilden bis heute das emotionale Fundament meiner Arbeit. Später, als ich mich zunehmend der Landschaft zuwandte, wurde mir klar, dass Landschaften für mich ebenfalls Körper sind. In Bergen, Felsen, Linien und Räumen finde ich dieselben Kräfte wieder: eine stille Erotik, rohe Gewalt, eine tiefe Ästhetik. Und auch hier wurde der eigene Körper wieder wichtig - das Gehen, das Spüren von Schmerz beim Aufstieg, die Angst in der Höhe, die Erschöpfung und das Staunen. All diese Empfindungen fließen in meine Landschaftsbilder ein - sie sind nicht reine Abbilder, sondern Erinnerungen an körperliche Erfahrungen in der Natur. In den letzten Jahren habe ich mich wieder verstärkt dem Körper selbst zugewandt - vor allem der Frage, wie sich ein Körper anfühlt, nicht wie er aussieht. Diese sinnliche, tastende Annäherung prägt derzeit meine Arbeit und verbindet sich mit den Themen, die mich schon früh bewegt haben.

"Als Künstler analysiere und hinterfrage ich das Sichtbare, um die verborgenen Schichten und Widersprüche der Welt zu offenbaren."


Welcher ist Ihr, noch lebender, Lieblingskünstler?

Ich bin besonders fasziniert von Cecily Brown. Ihre Malerei berührt mich auf eine Weise, die über das rein Visuelle hinausgeht - ich sehe die Bilder nicht nur, ich spüre sie. Besonders in jenen Arbeiten, in denen sie Landschaftliches und Erotik in abstrakte Formen überführt, entsteht für mich eine große Lebendigkeit. Es geht mir dabei weniger um ihre expliziteren, pornografischen Motive, sondern um die sinnliche Energie, die in ihren Farbflächen pulsiert. In Werken wie zum Beispiel in „Gagosian“ interessiert mich besonders, wie sie Farbflächen so ineinander schiebt, dass ein vibrierendes Geflecht aus Bewegung, Emotion und Form entsteht. Das finde ich großartig und sehr inspirierend für mein eigenes Arbeiten. Etwas Ähnliches empfinde ich bei Per Kirkeby, obwohl seine Arbeiten deutlich melancholischer sind. Auch er schafft in seinen Landschaften eine emotionale Dichte - durch eine ganz eigene, oft erdige Farbzusammenstellung und eine organische Formensprache. Bei ihm ist es weniger ein Vibrieren als ein tiefes, manchmal schweres Atmen der Farbe, das mich anspricht.

Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit beim Betrachter hervorrufen?

Ich wünsche mir, dass meine Arbeiten den Betrachter auf eine stille Weise berühren. In einer Zeit, in der vieles schnell konsumiert oder eingeordnet wird, möchte ich Bilder schaffen, die zum Innehalten einladen. Bilder, die sich nicht sofort erschließen, sondern vielleicht eine leise Irritation auslösen - etwas, das man nicht gleich benennen kann. Mich interessieren Spannungen, wie das Zusammenspiel von Gegensätzen wie Zärtlichkeit und Aggression, runde Formen und eckige Formen, Ordnung und Auflösung. Diese Spannungen tragen meine Bilder. Sie sind nicht als Konflikt gedacht, sondern als Einladung, beide Pole gleichzeitig aufzunehmen. Wenn der Betrachter durch diese Spannungen irritiert wird, entsteht ein offener Raum - etwas, das ihn im Bild hält, ihn vielleicht sogar mit sich selbst in Kontakt bringt. In meinen aktuellen Landschaftsarbeiten beschäftigt mich zum Beispiel das Prinzip von Erscheinen und Verschwinden. Sichtbare, oft dunkle Linien werden mit weißen Linien oder Flächen übermalt - nicht um sie ganz zu löschen, sondern um sie zurückzunehmen. Was sichtbar war, wird dadurch zugleich entzogen. Dieser Widerspruch - dass etwas präsent und gleichzeitig nicht greifbar ist - interessiert mich hier. Auch darin liegt eine stille Spannung, ein Spiel mit Wahrnehmung, Erinnerung und dem, was sich der Klarheit entzieht.

"Hautnah" Öl auf Leinwand 90 x 70 cm"


Was ist die interessanteste Interpretation, die Sie von Ihrer Arbeit gehört haben?

Eine Interpretation hatte mich besonders überrascht. Eine Käuferin hatte sich in eine meiner Landschaftsarbeiten verliebt: eine idyllische, fast klassische Bergszene im Hochgebirge, lichtvoll und kraftvoll. Die Brüchigkeit der Berglandschaft war durch verlaufende Ölfarbe angedeutet.  Doch nachdem das Bild eine Weile bei ihr hing, bekam sie Angst davor. Sie sah in den Tropfspuren der Ölfarbe „schwarze Tränen“ und konnte es nicht mehr in ihrer Wohnung haben. Für mich war das im ersten Moment unerwartet. Und doch hat ihre Reaktion etwas Wahres berührt. In der Schönheit und Erhabenheit dieser Landschaft liegt auch eine Wucht - eine Kraft, die unheimlich und überwältigend sein kann. Das Bedrohliche und das Idyllische schließen sich nicht aus; im Gegenteil, sie gehören für mich zusammen. Auch wenn ihre Reaktion sehr negativ war - sie hat das Bild schließlich zurückgegeben - war das für mich nicht enttäuschend. Im Gegenteil: Es hat mir gezeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Denn mir geht es nicht um gefällige Bilder, sondern um Tiefe, um Ambivalenz. Wenn ein Werk so stark wirkt, dass es eine emotionale Reaktion auslöst, vielleicht sogar eine Irritation oder Verstörung, dann erfüllt es für mich genau das, was Kunst leisten kann: etwas in Bewegung zu bringen, was vielleicht abgespalten war - widersprüchliche Gefühle, verdrängte Erfahrungen, das Destruktive mitten im Schönen. Kunst kann Räume öffnen, in denen solche Gegensätze wieder in Beziehung treten.


Woher nehmen Sie Ihre Inspiration für Ihre Arbeiten?

Meine Inspiration kommt aus der Natur - nicht im Sinne eines äußeren Motivs, sondern aus der körperlichen und emotionalen Erfahrung, die ich in der Landschaft mache. Das Gehen, das Wandern, das Erleben von Weite, Stille, Anstrengung oder Angst - all das sind Momente, in denen sich etwas in mir einschreibt. Diese Erfahrungen enthalten oft genau jene Spannungen, die mich künstlerisch interessieren. Auch in der Begegnung mit anderen Menschen finde ich solche ambivalenten Zustände - Nähe und Distanz, Zartheit und Irritation. Es sind oft emotionale, schwer fassbare Eindrücke, die in mir nachwirken und irgendwann in eine bildnerische Form finden. Was mich dabei besonders beschäftigt, ist die Frage der Erinnerung: Was bleibt eigentlich von einem Erlebnis? Was verschwindet? Ich arbeite oft mit Erinnerungsspuren - etwa, indem ich Landschaften nicht direkt vor Ort, sondern aus der Erinnerung zeichne. Dabei halte ich nur fest, was tatsächlich in mir geblieben ist - alles andere ist bereits verschwunden. Auch in meiner Serie „Im Atmen der Linien“ geht es um diese Form der tastenden Erinnerung. Dort zeichne ich menschliche Figuren, indem ich mir vorstelle, wie sich ein Körper angefühlt hat - seine Wärme, seine Spannung, seine Verletzlichkeit - und ihn blind nachzeichne. Es geht mir dabei nicht um anatomische Genauigkeit, sondern um eine sinnliche Spur, eine körperlich-emotionale Erinnerung. Inspiration ist für mich nie rein visuell, sondern ein Prozess des Nachfühlens - ein Arbeiten mit dem, was nicht mehr ganz da ist und doch eine Resonanz hinterlässt.

"Es geht darum, die Spannung auszuhalten und am Ende eine neue ästhetische Form zu finden, die all diese Widersprüche in sich trägt."


Was ist das beste daran Künstler zu sein?

Für mich ist das Künstlersein eine Form der Forschung - aber nicht mit Begriffen oder Theorien, sondern mit Linien, Farben, Spuren. Es erlaubt mir, Dinge zu erforschen und auszudrücken, die sich sprachlich nicht fassen lassen. In meiner künstlerischen Arbeit finde ich eine Tiefe, in der ich mich ganz und gar wiederfinde - mit meinen Fragen, meiner Wahrnehmung, meinen Widersprüchen. Das Beste daran ist vielleicht genau das: dass ich mit dem, was ich tue, nicht nur etwas zeige, sondern gleichzeitig etwas suche. Und dass ich auf diesem Weg in Kontakt treten kann - mit Betrachter*innen, mit anderen Menschen, mit der Welt - auf einer Ebene, über die man sonst oft nicht spricht. Kunst schafft einen Raum, in dem das Unaussprechliche sichtbar und spürbar werden kann. Und sie verändert den Blick: Ich sehe die Welt anders, wenn ich sie durch meine Arbeit hindurch betrachte. In einer Zeit, in der so vieles aus den Fugen gerät - mit Kriegen, Krisen, Zerstörung - ist Kunst für mich auch eine Form von Trost. Sie hilft mir, mich mit dieser Welt, die ich oft als sehr schmerzlich erlebe, auf einer tieferen Ebene zu versöhnen. Nicht indem sie etwas beschönigt, sondern indem sie das Menschliche darin sichtbar macht - das Verletzliche, das Hoffende, das Verbindende. Kunst bewahrt etwas, das sonst vielleicht verloren gehen würde. Und vielleicht ist es genau das, was mich weitermachen lässt: dass ich durch die Kunst immer wieder spüre, dass etwas Sinn macht - auch wenn ich es nicht benennen kann. Ich kann gar nicht anders.


Können Sie Ihre Techniken und Ihren künstlerischen Schaffensprozess beschreiben?

Meine Techniken richten sich immer nach dem jeweiligen Projekt - ich wähle das Material nicht vorab, sondern danach, was die Arbeit verlangt. Bei meinen figürlichen Arbeiten arbeite ich meist mit Ölfarbe, weil sie mir in ihrer Dichte, ihrer Langsamkeit und ihrem Glanz körperlicher erscheint als Acryl. Sie hat für mich etwas Hautähnliches, etwas Sinnliches, das zu diesen Bildern passt. Wenn ich hingegen in der Natur arbeite - etwa unterwegs auf Reisen oder beim Wandern - verwende ich oft Acrylfarben, weil sie schneller trocknen und flexibler einzusetzen sind. Ich bin offen für neue Techniken und Medien, wenn sie zum Thema passen. In einem Projekt habe ich beispielsweise Bilder vergraben, um die Natur selbst am Entstehungsprozess zu beteiligen. Was alle meine Arbeiten verbindet, ist der langsame, tastende Prozess. Die Bilder hängen oft über längere Zeit im Atelier, werden betrachtet, überarbeitet, wieder in Frage gestellt. Es dauert lange, bis ich ein Bild als abgeschlossen empfinde. Ich warte darauf, dass mir etwas entgegentritt - eine Spannung, eine Figur, ein Blick. Gerade bei den figürlichen Arbeiten ist dieser Moment zentral: dass aus den Linien, die ich oft blind und aus der Erinnerung ziehe, plötzlich etwas hervortritt, das mich anschaut. Es ist ein dialogischer Moment - das Bild tritt mir entgegen, nicht ich bestimme es allein. Diese Offenheit, dieses Warten auf eine innere Antwort, ist für mich ein wesentlicher Teil meines künstlerischen Prozesses.

"Jeder Pinselstrich ist ein Experiment, ein subversives Spiel mit Normen und Erwartungen. Ich suche das Fremde im Bekannten, die Brüche im Schönen."


Was war Ihr überraschendster Moment ihrer bisherigen Kunstkarriere?

Einer der überraschendsten und prägendsten Momente war eine Nacht in den Bergen, in der ich unter freiem Himmel schlafen wollte - in der Vorstellung, ganz mit der Natur zu verschmelzen, eins mit ihr zu sein. Es war ein romantischer, fast kindlicher Gedanke: unter dem Sternenhimmel zu liegen, eingebettet in eine stille, weite Landschaft. Doch es kam ganz anders. In der Nacht zog ein schweres Gewitter auf. Ich suchte Schutz unter einem Felsen, klatschnass, frierend, unter 0 Grad, während die Blitze ringsum einschlugen. Ich hatte Todesangst - und erlebte meine völlige Schutzlosigkeit in einer Natur, die keine Rücksicht nimmt. Irgendwann bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen und erwachte später unter einem klaren Sternenhimmel - aber noch immer in dieser Kälte und Ausgesetztheit. Dieses Erlebnis hat vieles in mir verändert. Ich hatte begriffen, dass das romantische Bild von der Einheit mit der Natur eine Illusion ist - das Natur nicht nur Idylle ist, sondern auch Gewalt, Gleichgültigkeit, Überforderung. Diese Erfahrung hat meine Arbeit nachhaltig beeinflusst. Seitdem spielt die körperliche Erfahrung eine viel stärkere Rolle - das Gehen, das Frieren, die Erschöpfung, der Schmerz. In manchen Landschaftsbildern habe ich direkt Teile meines Körpers eingebracht - zum Beispiel die Spur eines Knies, das beim Aufstieg geschmerzt hat. Ich versuche, den Körper als Resonanzraum der Natur zu zeigen - als verletzliches, fühlendes Wesen inmitten einer Welt, die uns übersteigt. Das war ein Wendepunkt: weg von der äußeren Landschaft hin zu einer inneren und leiblich empfundenen.


Welche Anschauung haben Sie auf unsere Welt und ihre Gesellschaft?

Meine Wahrnehmung der Welt ist zutiefst zwiespältig. Ich sehe auf der einen Seite die große Fähigkeit der Menschen zur Liebe, zur Zärtlichkeit, zur Nähe. Etwas Berührendes und Menschliches, das mich immer wieder tief bewegt. Auf der anderen Seite sehe ich den Hass, die Gewalt, die Zerstörung - Kriege, die sich selbst am Leben halten, Systeme, die Menschen voneinander trennen statt verbinden. Und ich frage mich oft: Wie ist das möglich? Wie können in einem einzigen Wesen so gegensätzliche Kräfte wohnen -Eros und Thanatos, Liebe und Hass. Diese Ambivalenz hat mich schon als Kind beschäftigt, und sie prägt meine Arbeit bis heute. Ich mache keine explizit politischen Kunstwerke, aber die Unruhe, Unsicherheit, die in unserer Welt spürbar ist, findet sich in meinen Linien, in der Bewegung meiner Bilder. Ich habe einmal eine Bild gemacht, in dem ich einen Teil der Leinwand verbrannt und hineingeschrieben habe: „Ich habe mir die Welt anders vorgestellt“. Das ist vielleicht eine meiner klarsten politischen Aussagen - nicht im Sinne einer Lösung, sondern als Schmerz, Sehnsucht und Widerspruch. Ich glaube, dass es in meiner Arbeit immer wieder um das Versöhnen dieser Gegensätze geht. Nicht darum, sie aufzulösen, sondern sie nebeneinander zu halten - das Aggressive und das Zarte, das Schmerzhafte und das Hoffnungsvolle. Ich sehe auch in der Aggression eine Form von Lebenskraft - etwas, das sich nicht gegen, sondern auch für etwas richten kann. Vielleicht ist das die größte menschliche Stärke: nicht das Entweder-Oder, sondern die Fähigkeit zur Verbindung. Diese Verbindung zu zeigen und erlebbar zu machen, ist ein zentrales Anliegen meiner Kunst.

An der Quelle" Öl auf Leinwand 120 x 80 cm

Welcher Aspekt des kreativen Prozesses gefällt Ihnen am besten?

Am berührendsten ist für mich der Moment, in dem etwas im Bild erscheint, das ich vorher nicht kannte - etwas, das nicht geplant war, das sich nicht aus einer Idee ableiten lässt, sondern plötzlich da ist. Dieser Moment des Unerwarteten, des Unbekannten, das sich aus der Arbeit heraus zeigt, ist für mich das eigentlich Kostbare. Es ist, als würde mir das Bild etwas zeigen, das ich selbst noch nicht wusste. Besonders intensiv erlebe ich das in meiner Serie „Im Atmen der Linien“. Dort zeichne ich viele Figuren blind übereinander - tastend, erinnernd, ohne hinzusehen. Ich stelle mir vor, wie sich ein Körper anfühlt, nicht wie er aussieht. Und wenn ich dann die Augen öffne, ist es manchmal, als würde mich eine Figur anschauen, die ich vorher nur gespürt habe. Das ist ein magischer Moment - ein Sichtbarwerden des Inneren, das plötzlich eine eigene Präsenz bekommt. Manchmal entsteht dabei ein Zustand, in dem ich mit dem Bild in einen ganz lebendigen Dialog trete. Jede Linie, jede Veränderung antwortet mir - und ich reagiere wieder darauf. Es ist ein Tanz zwischen mir und dem Bild, ein körperlicher, emotionaler, intuitiver Prozess. Genau dieser Tanz steckt für mich auch im Titel „Im Atmen der Linien“- eine Bewegung, die nicht kontrolliert, sondern erspürt wird. Ob das Bild am nächsten Tag noch genauso stimmig erscheint, bleibt offen. Aber dieser Moment der Begegnung, dieser Dialog mit dem Unbekannten, ist für mich das Schönste am kreativen Prozess - und oft auch das Bewegendste.


Was sind Ihre nächsten Projekte, Ideen und Ausstellungen. Wo kann man Sie und Ihre Kunst zeitnah sehen?

Aktuell arbeite ich weiter an meiner Serie „Im Atmen der Linien“, in der ich mich blind und tastend dem menschlichen Körper annähere. Parallel dazu hat sich ein neues Thema herausgebildet, das eng damit verbunden ist: die Auseinandersetzung mit Haut und Oberflächen. Mich beschäftigt die Vorstellung, dass Bilder selbst wie eine Haut sein können - etwas, das berührt, schützt, spürbar macht. Diese Verbindung zwischen Körper, Linie und Oberfläche entwickelt sich gerade weiter und fließt zunehmend in meine Arbeiten ein. Zu sehen sind meine Werke momentan im Kunstkreis Preetz bei Kiel (bis Mitte Mai) und im Kunstpakhuset Ikast in Dänemark (bis Mitte Juni). Außerdem bereite ich eine Ausstellung vor, die mir besonders am Herzen liegt: das „Bildvergrabungsprojekt“, das ich vor acht Jahren begonnen habe. Damals habe ich weltweit Teile von Bildern vergraben, um die Natur selbst in den Entstehungsprozess einzubeziehen. Die letzten vergrabenen Bildteile habe ich im vergangenen Jahr wieder ausgegraben. Diese verwitterten, vom Boden gezeichneten Fragmente werden im Oktober im Archäologischen Museum Hamburg-Harburg in der ständigen Ausstellung gezeigt - an einem Ort, der die Verbindung von Zeit, Spur und Erinnerung auf besondere Weise trägt.

Weitere Informationen und verfügbare Werke unter:

www.matthiasoppermann.de

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